BÄNKELSÄNGER

 

di Hans A. NEUNZIG

 

( da “ Das illustrirte Moritaten-Lesebuch ” – Nymphenburger Verlagshandlung )

 

 

 

 

Moritaten als unsterblich zu bezeichnen, ist vielleicht zu hochgegriffen; ihrem literarischen "Stande" nach, ihrer Herkunft von Markt und Straße zufolge, ist es angemessener, davon zu sprechen, dass sie nicht tot zu krie­gen sind. Die Moritat lebt auf zweierlei Art weiter: einmal durch die un­mittelbare Wiederaufnahme der Moritatenform und des Moritatentons als Kunstmittel und zum zweiten durch indirekte Nachfolge, das heißt durch die Übernahme ihrer wesentlichen Elemente.

Die Bänkelsänger, sie waren es ja, die Moritaten auf Jahrmarkten zum besten gaben, schufen für den Zuhörer ihrer Zeit eine ideale Verbindung von Wort und Bild. Sie standen auf dem Bänkchen, von dem sie ihren Na­men haben, und deuteten mit langem Zeigestock auf die Szenenbilder, die auf ihrem "Schild", einer Wachstuchtafel aufgemalt waren.

Bildliche Darstellungen solcher Jahrmarktssänger gibt es vom 16. Jahr­hundert an bis heute; in unseren Tagen beispielsweise aus Apulien: dort finden sich nun ganz modern gekleidete Damen und Herren auf den Sze­nenbildchen.

Die Bildertafel gab es auch als frühes Werbeplakat für allerlei Markt­schreier und Marktverkäufer. Berühmtes Beispiel - Grimmelshausens Simplizissimus:

"Da hielt ich zuerst mit dem Wirte Rat, wie die Sache noch ferner an­zugreifen sein möchte, und er gab mir nun alsobald an die Hand, ich sollte nicht weit von seinem Hause, das ohnedies dem öffentlichen Markte nahe gelegen war, meine Kalender auf einem Tischlein, das er mir leihen wollte, auslegen und, hinter demselben auf einer Bank stehend, frisch und unver­zagt meine wohlerfundene Zeitung auf das beweglichste absingen."

Die von den Bänkelsängern dargebotene Mischung aus Bild und Wort war zeitgemäß und in jeder Bedeutung des Wortes marktgerecht, denn das Publikum vor dem Bankchen, das Volk, das auf die Jahrmarkte strömte, war zu großen Teilen des Lesens ja noch gar nicht mächtig. Bänkelsänger waren nahe Verwandte und dann Nachfolger der Zeitungs- und Avisen­sänger mit ihrer "Neue Zeitung", die Nachrichten vor das ununterrichtete Volk brachten.

Mit der abfallenden Kurve des Analphabetismus veränderte sich das Geschäft der Bänkelsänger. Wie aus Zeitungssängern Lieder- und Zeitungs­verkäufer wurden, so wandelte sich der Bänkelsänger in Jahrmarktssänger und Moritatenverkäufer; es entwickelte sich eine Arbeitsteilung zwischen Moritatenautoren, Moritatendruckern und Moritatensängern und -ver­käufern.

Bezeichnend für diese Entwicklung ist, dass uns Texte von Moritaten erst aus der späten Zeit des Bänkelsangs überkommen sind, also aus der Zeit der ersten Heftverkaufe. Auch das einfache Volk konnte nun selbst lesen. Eine ganze Epoche der Vorherrschaft des Wortes fand ihren Höhe­punkt.

Er ist heute langst überschritten. Die Mischung aus Bild und Text faszi­niert von neuem. Das Bild ist auf dem Vormarsch. Und es ist kaum zwei­felhaft, dass wir heute dabei sind, eine Art des Analphabetismus oder der Analphabetisierung zu erleben und mitzubilden, mit dem allerdings we­sentlichen Unterschied, dass alle lesen können. Das soll hier nicht gesagt sein, um diesen Vorgang einzig zu beklagen. In der Tat lasst sich durch das Bild, durch die Zeichnung, durch das Bildsymbol vieles schneller und rich­tiger oder eindeutiger erkennen als durch die Umsetzung von Sprache in Vorstellung.

Techniker, Wissenschaftler verstehen sich über alle Sprachgrenzen hin­weg durch die bildliche Darstellung sprachlich höchst kompliziert auszu­drückender Zusammenhange.

Bildliche Symbole haben sich zum Vorteil richtigen Verstehens und Ver­haltens gegenüber umständlichen Aufschriften durchgesetzt. Wie sich die Bildsymbole etwa für die Wettkampfstatten bei den Olympischen Spielen in München bewahrt haben, ist nur ein Beispiel von vielen.

Freilich kann die Vorherrschaft der Bilder, wenn sie zum schlicht passi­ven Gaffen animiert, zu einer Verkümmerung der Fähigkeit führen, Ge­dankliches umzusetzen. Es bedarf keiner großen statistischen Aufbereitung, um zu erkennen, wie stark das Fernsehen heute zur Inaktivität des Kör­pers und des Geistes verleitet, zum bewegungsarmen und gedankenlosen Konsum.

Die Vereinfachung der Bildersprache, die, überlegt angewendet, nütz­lich ist, kann zu einer Verarmung der Spielmöglichkeiten des menschlichen Geistes führen, während deren Ausschöpfung durch jene Mischung aus Bild und Text sogar in einem gesteigerten Maß gegeben sein könnte.

Die Texte, die wir den Moritatendrucken des 19. Jahrhunderts entneh­men, haben für den heutigen Leser vor allem den erheiternden Reiz des scheinbar Naiven. Was die Zuhörer der Bänkelsänger erschütterte oder zu Tranen rührte, wirkt in seinem Pathos, seinem auf die Spitze getriebenen blutigen Realismus, seiner dick aufgetragenen Moral nicht mehr bewe­gend, sondern überaus komisch.

Die Übertreibung regiert in diesen Texten. Das Grausame kann gar nicht grausam genug, das Rührende nicht rührend genug und die Moral nicht moralisch genug herausgemeißelt werden. Mord war ein Lieblings­thema und recht blutig musste er sein.

In den ersten Jahren nach dem Erscheinen der "Bild"-Zeitung war es ein beliebter und weitverbreiteter Scherz zu sagen, man möge das Blatt um Himmels Willen nicht schräg halten, es flösse sonst das Blut heraus.

Es besteht ja gar kein Zweifel daran, dass die Boulevard-Presse, die Romanheftchen-Industrie auf haargenau dieselbe Weise ihrem Publikum nach dem Munde zu singen versuchen, wie es die Verfasser von Moritaten schon zweihundert und dreihundert Jahre früher vorexerziert haben. Die moralische Empörung über ein Verbrechen dient zur Rechtfertigung dafür, dasselbe Verbrechen genüsslich nachzuerzählen. Das Publikum durfte und darf Laster ungestört genießen.

Dabei wird gleichzeitig - und das gilt auch wieder von der Moritat bis zur Familiensendung des späten Moritatenbilder-Nachkommlings Fern­sehen - Beruhigung ausgestreut. Die Beruhigung wird damit bewirkt, dass das Gute schließlich doch noch siegt, dass "nichts so fein gesponnen, es kommt doch ans Licht der Sonnen".

Rührung kommt als Bindemittel hinzu: alles Getrennte findet sich wieder.

Es kann, meine ich, nicht zweifelhaft sein, dass Menschen ihre stärkste Beeinflussung nicht durch Vorträge, direkte Information und Diskussionen erfahren, sondern durch Geschichten. Das heißt, wir lassen uns am leich­testen prägen, wenn wir uns identifizieren können. Darum redet die Bibel in Gleichnissen. Dass Bildergeschichten damals wie heute auch auf das po­litische Urteilsvermögen wirken, hangt damit zusammen, dass sie die Mög­lichkeit einer differenzierten Weltsicht von Millionen unterstützen oder verkleistern können.

Die Wirkung der Bildergeschichten des Bänkelsangs waren beispiels­weise den deutschen Romantikern einleuchtend genug, dass sie den Plan fassten, eine Bänkelsängerschule zu errichten. Achim v. Arnims Idee, er hatte auf einer Rheinreise im Jahre 1802 zusammen mit Clemens Bren­tano Bänkelsänger erlebt, war ganz auf die politische Bildung des Volkes gerichtet, getragen von jenem romantischen Patriotismus, der das poli­tische Bewusstsein der Deutschen so nachdrücklich beeinflusst hat. Der Ge­danke kam nicht zur Ausführung, tauchte aber auch später gelegentlich wieder auf. Heute haben wir allein mit dem Fernsehen ein großartiges Instrument, Bildergeschichten zu erzählen. Eine große Zahl der Bilder­geschichten-Produzenten scheint nur die Elementarklassen der auch hier notwendigen Schule durchlaufen zu haben.

Die Frage nach den politischen Inhalten und Wirkungen von Moritaten aber beschäftigt neuerdings die Historiker, Volkskundler und Literatur­historiker zu Recht, nachdem die Literaturwissenschaft dem Bänkellied als Studienobjekt bis in unser Jahrhundert hinein zurückhaltend, wenn nicht ganz und gar uninteressiert gegenüberstand. Denn Trivialliteratur-For­schung bezog sich traditionell auf den volkstümlichen Roman, Lesefutter für das gehobene Bürgertum.

Volkslesestoffe, wie es Moritaten zumindest im 19. Jahrhundert wur­den, kann man beinahe als eine Neuentdeckung der neueren Literatur­soziologie ansehen.

Das Wort "Moritat" übrigens ist auf verschiedene Weise gedeutet wor­den: das französische "moralité" wurde in Anspruch genommen, was mir sehr einleuchtend erscheint, da eines sicher gilt: keine Moritat ohne Moral!. Die Tatsache, dass der Anteil an Mordgeschichten in den Moritaten­drucken, die uns überkommen sind, bei weitem gegenüber jedem anderen Thema überwiegt, gab den Anstoß zu der Vermutung, dass es sich bei "Moritat" um eine einfache Dehnung des Wortes "Mordtat" handle. Da­mit jedoch scheint mir das Programm der Bänkelsänger unterschätzt.

Man muss das "Programm" der Bänkelsänger ganz sicher als Ausschnitt der großen Flugblatt- und Heftchenproduktion sehen, die im 18. und erst recht im 19. J ahrhundert erschien.

Wenn Bänkelsänger also auch eine Vorliebe für Mordgeschichten hatten, weil sie damit offenbar am besten ankamen, wobei sich die Kindsmörderin besonderer Beliebtheit erfreute, so versuchten doch auch sie, aktuell zu sein. Auch damals war also das jüngste Ereignis wesentlich attraktiver als die um weniges altere Geschichte.

Gegen das Altern der Geschichten half man sich auf einfache Weise. Jahreszahlen wurden in den meisten Fallen vermieden. Die Geschichten spielten fast immer "in der jüngsten Zeit" oder, noch lieber, "in diesem Jahr"; und dieses Jahr ist natürlich jedes Jahr.

Neben "Raub und Mord" gab es auch beim Bänkelsang einige andere bevorzugte Bereiche, die den Charakteristiken moderner journalistischer Kategorien durchaus ahneln:

"Bekehrung und Erbauung" etwa: das reicht von "Der Kirchenräuber und seine unglückliche Tochter Margarethe oder Gott sucht die Sünden der Vater heim an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied" über "Die Einsame auf dem Meer, oder: Gott verlasst die Seinen nicht" bis zur un­sterblichen Geschichte von "Genoveva, der frommen Pfalzgräfin Leiden und Errettung" .

Wunderglauben, das Interesse an Schauder produzierenden Schicksals­ schHigen wie Schiffsuntergängen und Erdbeben, die Faszination, die von Prophezeiungen ausgeht, alles dies wussten Bänkelsänger wohl zu nutzen.

Auch als Zeitung und Geschichtsschreibung ist die Moritat verwendet worden; ein Ereignis wie »Die Erstürmung der Düppeler Schanzen und des Brückenkopfes durch die Preußen am 18. April 1864" ist ebenso Stoff für Moritaten wie es Stoff wurde für Fontane im »Stechlin". Ins Mori­tatenrepertoire gehören ebenso die »Ausführliche Geschichte der Revolu­tion in Berlin 1848" wie der "Ausführliche Bericht über die Erschießung des Kaisers Maximilian von Mexiko, nebst ausführlicher Lebensbeschrei­bung dieses unglücklichen Regenten und seines Gegners Benito Juarez".

Wenn die politische Wirkung von Moritaten kaum bestritten werden kann, darf doch die politische Absicht, die aus einigen Themen spricht, sicher nicht überschätzt werden, denn die Moritat nahm nur auf, was ge­rade im Schwange war. Sicher gab es Ausnahmen, denn so gut wie Achim v. Arnim hatten auch andere den Bänkelsang als mögliches Instrument, Einfluss zu nehmen, erkannt. Der Moritatendruck über "Das Vehmgericht des I9ten Jahrhunderts, oder: Die Opfer der Arbeitervereine von Shef­field in England" konnte ein Beispiel sein.

Aber, wenn heute auch gern eine direkte Verbindung gesehen wird zwi­schen Bänkelsang und politischem Lied, das später im Moritatenton durch­aus reüssierte: die Voraussetzungen für eine solche Verbindung, der von Idee und Moritat, waren nicht gegeben. Die Verhältnisse waren nicht danach.

»Von dem elenden Gesange der Bänkelsänger, Almanachsfüller und Gelegenheitsdichter, die um einen Dukaten lachen oder weinen, schaaren­weise den Parnass bestürmen, um die Leichen oder Hochzeitsgaste, deren Schmäuser sie solemnisieren, mit Makulatur zu versehen, ist kein Schuss auf den Geschmack oder die Fähigkeit der Nation, nur auf den Hunger des Versmachers zu machen. Das Gequake dieser Stadt- und Dorfpoeten ist schuld, dass Ausländer bisher die Nation so bitter beurteilt haben."

So steht es in »Geographie und Statistik Wirtembergs" aus dem Jahr 1787. Da wehr sich einer für die Nation gegen diese Art niederer Litera­turproduktion. Die wichtigste Stelle seiner Philippika gegen Bänkelsang und Gelegenheitsdichtung ist aber diese, dass "von dem elenden Gesange" ein Schluss "nur auf den Hunger des Versemachers zu machen" sei.

Wer war es denn, der da sang oder der die Texte zu dieserart Geschich­ten und Liedern schrieb?

Es waren Leute, die sich irgendeinen politisch-pädagogischen oder ästhetischen Impuls gar nicht leisten zu können glaubten; und wahrscheinlich hatten sie Recht. Sie schrieben oder sangen des puren Gelderwerbs wegen. Hier schrieben Vertreter einer Schicht, die von der Gesellschaft, die sich für Literatur und Politik zuständig glaubte und die es aus tausend Grün­den auch allein sein konnte, auf Distanz gehalten wurde.

Es gab den Bänkelsänger als freiwilligen oder bestellten - wer will das genau wissen - Sänger politischer Hetzlieder. Bezeichnend ist, dass er sich auch hier der herrschenden Meinung anpasste. Vielleicht kann man aber gelegentlich auch sagen, er sprach aus, was alle meinten, aber noch nicht formulieren konnten. Jedenfalls legte er sich erst mit dem geschlagenen Feind an: "Heran! heran, ihr Herrn und Frau'n, Hier ist das grimmig Tier zu schau'n,

Welches zerriss und erwürgte geschwind

In Russland viele Menschenkind,

es's hatte einen Magen viel Meilen groß,

Fraß Kühe, Schafe, Reiter und Ross;

In Moskau ward es ausgeklopft,

In Paris ward's geschlachtet und ausgestopft."

 

Das ließ sich 1813 ungefährdet singen.

Politisch, bewusst politisch und gesellschaftskritisch wurde die Moritat erst in ihrer literarischen Verfremdung: mit Wedekind (Die Alexanders­schlacht), mit Brecht (Mackie Messer) und in jüngster Zeit etwa mit Christa Reinig (Die Ballade vom blutigen Bomme).

 

 

 

 

 

Aber nun kommt etwas Erstaunliches: Obwohl Moritatensänger nichts anderes vorhatten, als dem Publikumsgeschmack gefällig zu sein, obwohl die Geschichten von Moral trieften, das Gute obsiegte und politische (es ging ja stets hochpatriotisch zu) oder sozialpolitische Aufwiegelung (die bestehenden Verhältnisse waren absolut tabu) nicht im geringsten Motiva­tion der Autoren war, dennoch waren Bänkelsänger beinah ständig in der Gefahr, von der Polizei eingesperrt zu werden, wurden Moritatendrucke permanent konfisziert.

Das hat zunächst sicher einen ganz äußerlichen Grund: Liederverkäufer, Kolporteure, Bänkelsänger waren als fahrendes Volk ebenso wie Quack­sal ber und Hausierer der Ordnungsmacht ein Dorn im Auge. Dass mancher Polizeibehörde auch aufgegangen sein muss, dass die Entrüstung über Mord, schildert man ihn dabei möglichst drastisch und ausführlich, wo­möglich schädigend für die gute Moral sein könnte, das beweist eine Ver­lautbarung der Hamburger Polizei aus dem Jahre 1819:    .

"Da das Umhertragen von skandalosen Liedern, das Ausrufen oder Ab­singen von Armesünder-Liedern mit Holzschnitten oder Kupferstichen und das Aufhangen von Abbildungen grauser Mordszenen nachträglich für die Moralität und unsittlich ist, auch den bestehenden Gesetzen gerade zuwider lauft: so wird den Polizei-Offizianten auf's Neue aufgegeben, dafür zu sorgen, dass es nicht weiter statthabe, und die Ungehorsamkeit anzuzeigen, damit sie zur Verantwortung und Strafe gezogen werden

können. "

Was aber sozialpolitisch gefährlich und deswegen tatsächlich für die Be­hörden beunruhigend sein musste, war etwas, das erst eine Analyse der Struktur dieser Texte aufschließen kann und das deswegen von den zeit­genössischen Zensoren und Polizeigewaltigen tatsächlich nur erahnt wer­den konnte: es lag im Schema dieser Texte, ob es sich nun um Moritaten oder um andere Lied- und Prosadrucke handelte, es lag am Schema ihres drastischen Dualismus.

Eine großartige Schilderung dieser Zusammenhange hat Rudolf Schenda in seinem grundlegenden und zu neuer Forschung vielfach Anstoß geben­den Buch zum Thema der populären Lesestoffe "Volk ohne ich" gegeben. Da heißt es: "In der Tat ist der Jahrmarkt eine Brutstätte der sozialen Rüge - nicht zuletzt deswegen standen Bänkelsänger stets unter scharfer Polizeiaufsicht -; und wegen der offenen Anklagen gegen den' Reichen als Ausbeuter, den Herrn und die Herrin als Leuteschinder, den Ehemann als impotenten Tyrannen und gegen Müller und Schneider als unkontrollier­bare Betrüger fanden die von Gauklern verkauften Flugblätter und Heft­chen reizenden Absatz. Verständlich wurden sie aber nicht durch ver­nünftige Reflexion und Abwagen von Pro und Contra, sondern durch die krasse Zweiteilung in These und Antithese, die zu keinem aussöhnenden Vergleich gelangen. Der populäre Leser sieht in seiner von sozialen Dua­lismen bestimmten Welt keine Lösung, sondern nur den Konflikt."

Was hier an unausweichlicher Konfrontation in der Form steckt, ist in der literarisch-politischen Wiederaufnahme der Moritat sehr bewusst be­nützt und pronunziert worden:

 

"Denn die einen sind im Dunkeln Und die andern sind im Licht. Und man sieht die im Lichte Die im Dunkeln sieht man nicht. "

 

Mit der Parodie ist die Moritat vom Jahrmarkt und von der Strasse in die Sale umgezogen. Neben der politischen und sozialkritisch bestimmten Moritaten-Parodie gibt es und gab es auch schon neben der "echten" Mori­tat die Parodie unschuldigerer Prägung, die nur den Witz und die kuriose Vergröberung des Moritatentons nützt.  .

Das geht von der Werther-Parodie Nicolais "Eine entsetzliche Mord­geschichte von dem jungen Werther" nach der Melodie "Hört zu, ihr lie­ben Christen", bis hin zur "Moritat vom eiskalten Gasanstaltsdirektor" von Fritz Grasshoff, wie ja überhaupt der Schwarze Humor Empfindun­gen weckt, die denen gar nicht unähnlich sind, die wir beim Anhören alter Moritaten haben.

Die Anziehungskraft des Moritatentons lockt zur Nachahmung, lockt zum Hinhören, wenn es heißt:

 

"Höret, Leutchen, die Geschichte, Wie auch Unschuld leiden kann, Nehmt sie hin in dem Gedichte, Schaurig hört sie sich wohl an."