HERZELEID AUF LEINEWAND
di A. R. STEMMLE
( da “ Herzeleid auf Leinewand ” - ed. Bruckmann )
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“Es ist wunderbar, dass der Mensch durch Schreckliches immer aufgeregt sein will. Es ist an Mord und Totschlag non nicht genug, an Brand und Untergang; die Bänkelsänger müssen es an jeder Ecke wiederholen. Die guten Menschen wollen eingeschüchtert sein, um hinterdrein erst recht zu fühlen, wie schon und löblich es ist, fei Atem zu holen.
J.W. von Goethe, „Novelle“
Unsere Grosseltern erinnern sich noch jenes Mannes, der im Jahrmarktsrummel mit flitterbehangenen Karussells, knallenden Schützenständen, lärmender Ausrufern vor Schaubuden, duftenden Waffelbäckern, kreischenden Mädchen auf Schiffschaukeln und Rutschbahnen, mit grämlicher Miene und in feierlich getragener Weise vor großen, grell bemalten Leinwandtafeln die Folgen menschlicher Schwächen und grausiger Taten besang. Eine sanft tönende Drehorgel begleitete die larmoyante Melodie seines Liedes in Molltöne. Er sang von frühen Gräbern, von gebrochenen Treuegelöbnissen vor Traualtaren, von schrecklichen Gewalttaten, von Leid und Kummer, vom Schmerz des Verlassenwerdens und vom Glück des Sichwiederfindens nach Not in Kriegsjahren und mannigfachen Drangsalen in fernen Ländern. Mit einem langen Stab wies er auf die fortlaufenden Szenen seiner Bilderdramen, die blutigen Mordtaten, Hinrichtungen, Feuerbrünste, Bergwerksunglücke und Naturkatastrophen darstellen, aber auch von traurigen Liebesaffären und wundersamen Errettungen berichteten. Der Bänkelsänger, der damals seine hochtragischen Moritaten vor einem ergriffenen Publikum vortrug, verschwand nach dem ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts sang- und klanglos samt Singorgel und Moritatentafeln schnell und fast unmerklich von Rummelplätzen und Volksfesten, von Dult und Wiesen. Er wurde durch das Kino verdrängt, das jetzt auf ähnliche Weise, aber unendlich kunstvoller und viel raffinierter, die gleiche Sensationslust befriedigt. Er wurde vertrieben durch den volltechnisierten „Betrieb“, der sich mit dröhnenden Lautsprechern weit von der Romantik des früheren Jahrmark- und Schaubudenzaubers entfremdethat. Volkskundler, Literaturhistoriker und Theaterwissenschaftler kamen zum Begräbnis zu spät. Es gibt nur spärliche wissenschaftliche Hinweise in der Literatur, obwohl der Bänkelgesang in der Geschichte der Volksbildung und der Volkskunst eine wichtige Rolle spielt. Vorliegende Studien und historische Forschungen werden hier benutzt und ergänzt durch Berichte und Erinnerungen letzter lebender Bänkelsänger. Wenige Moritatentafeln, die erhalten blieben, und deren Beschreibung, die mit dem Originaltext aufgespürt und gesammelt werden konnten, geben von der komplizierten und seltsamen Darstellungsform dieser verschollenen Volkskunst ein Bild. Am Zufahrtsweg des Jahrmarktes, gern in der Nähe der Kirche, wo der Lärm die Darbietung nicht allzusehr störte, schlug der Bänkelsänger seinen Stand auf. Fünf bis sieben Moritatentafeln hingen nebeneinander auf einem Gestell und bildeten so eine acht bis zehn Meter lange und drei Meter hohe Wand, vor der sich ein erhörtes Podest hinzog, das „Bänkel“. Am Kopfende der Tafeln waren die Titel der Geschichten zu lesen: „Die Hochzeit im Totengewölbe“, „Das erwachte Gewissen beim Gebet des Herren“ (oder „Eine Rabenmutter“), „Die Lore von Brieg“ (oder „Die dreiste Magd hat viel gewagt“), „Die Bergwerkskatastrophe auf der Grube Maybach im Saargebiet“ (oder „Der toten Knappen letzte Fahrt“): Die Tafeln waren meist drei- oder fünfgeteilt. In der Mitte war das Haupteffektbild, oben und unten je zwei weitere Bilder. Das Ganze war mit einem ornamentalen, schmalen Rahmen umgeben, mit Schablonen hergestellt, wie ihn die Zimmermaler für Kanten und Friese als schmückende Dekoration verwenden. Diese auffallende, wildbewegte Bildwand mit den vielen ekstatisch agierenden Figuren, mit ihren grellen, schreienden Farben lockte, sobald die Tafeln entrollt wurden, neugierige Zuschauer heran. Die Drehorgel, von den fahrenden Leuten „Lotze“ genannt, spielte einen Vers als einleitende Lockmusik, während die Bilder betrachtet wurden. Flehend erhobene Hände, Mündungsfeurer aus Pistolen, angstvoll aufgerissene Münder, Kniefall, Hand aufs Herz, Selbstmord und Steinigung, Dolchstiche und mörderische Axthiebe, Kreuze und Kranze, zärtliche Umarmungen, Liebender, Tranen, Hochzeitskleider und Leichentücher: das alles stürmte mit verwirrenden und erregenden Eindrücken auf den Beschauer ein. Es war schwer, die Geschichten gleich in folgerichtig ablaufender Handlung aus den Bildern abzulesen. Das war auch nicht beabsichtigt. Die Geschehnisse waren oft mit Berechnung nicht in logischer Bildfolge nacheinander, sondern durcheinander dargestellt. Das große Mittelbild brauchte nicht immer unbedingt das Schlussbild zu sein. So bot sich Anreiz, den Verlauf der bildlich dargestellten Geschichte zu erfahren. Man blieb stehen und wartete auf Erläuterung und Erklärung. Die Drehorgelouvertüre verstummte endlich, und der „Moritator“ begann seinen „Anruf“ in der mechanischen Betonung des Auswendiggelernten: „... und sind wir in der Lage imstande, Ihnen die Mordbegebenheit der neuesten Zeit zu berichten und in Bildern zu bringen, wo daselbst das Schneidersche Ehepaar auf eine schreckliche Art und Weise arme Dienstmädchen ums Leben brachte. Unter dem Vorwand, ihnen eine Stelle zu verschaffen, lockten sie dieselben in einen Wald, wo sie dieselben auf eine bestialische Art ermordeten. Zu sehen auf der Tafel rechts: Franz und Rosalie Schneider oder die Mädchenmörder im Wienerwald.“ Dann sang er zu der wiederbeginnenden Drehorgelmusik die Einleitung:
„Menschen, höret die Geschichte, Die erst kürzlich ist gescheh’n, Die ich treulich euch berichte, Lasst uns dran ein Beispiel seh’n. Lasst uns redlich hier nur handeln, Treu erfüllen uns’re Pflicht, Stets der Tugend Pfad nur wandeln, Tugend gibt uns reines Licht.“
Solche musikalischen Einleitungen hatte der Moritatensänger mehrere zur Hand und sang sie zu den elf Tonen seines Leierkastens:
„Höret, eine Tat des Schreckens ist Schon wiederum geschehen. Doch schrecklich muss auch büssen, der So Graus’ges kann begehen. Ein Beispiel nehm’ sich jeder dran, Kind, Jüngling, Jungfrau, Weib und Mann.“
Oder kurzer: „Kommt, seht und hört, ihr Menschenkinder, Die schlimmen Taten arger Sünder.“
Nun erst begann die Erklärung der Geschichte, und zwar sang sie die Frau des Bänkelsängers. Das Bänkelsängerpaar war lange Zeit, auch in den bildlichen, zeitgenössischen Darstellungen, ein Begriff. Die Frau sang und schlug dabei mit dem Rhapsodenstab laut klatschend auf das entsprechende Bild. Auf dem war wenig Malerisches zu sehen. Ohne Perspektive, gleichsam vor gestellten Theaterdekorationen, war nur das Ereignis des jeweiligen Handlungsabschnittes mit seinen Hauptpersonen im Höhepunkt in haltbaren Ölfarben gemalt. Bild und Lied, das oft allein auch nicht so ohne weiteres verständlich war, ergänzten sich. Das Lied brach nach der ersten Strophe ab, und nun wurde das Ereignis bis dahin von dem Moritator noch einmal in Prosa erläutert. So wechselten Lied und Rezitation miteinander ab, bis schließlich am Ende die zweitstimmig gesungene Moral, der „Abgesang“, angehängt wurde. Auch da standen den Bänkelsängern mehrere Fassungen zur Verfügung :
„Jede finstere Tat der Nacht, Ob sie auch geheim geschehen, Wisst, ein Gott im Himmel wacht, Nichts bleibt vor ihm ungeschehen. Folget treu der Tugend Pfad. Gott rächt jede böse Tat.“
Oder : „Es seh’es, wer es sieht, mit dem Gedanken an: Es bleibt nicht ungestraft, das, was man bös’ getan. Drum nimm zur Warnung und zur Lehr’ die schaudervolle Tat, Bekehr’ dich Sünder, zittre und bereu’, eh es zu spät.“
Wahrend der ganzen theatralischen Darbietung – denn af den Brettern des buhnenartigen Podiums, die auch die Welt bedeuten, vor den gemalten Szenenbildern, mit Ouvertüre, Gesang und sich von Bild zu Bild dramatisch steigernder Erklärung, handelte es sich tatsächlich um eine theatralische Darbietung – während dieser also verkauften Gehilfen des Schaustellers Hefte mit den Beschreibungen an Zuhörer und Zuschauer. „... und haben Sie di Gelegenheit und Möglichkeit, ausführliche Einzelheiten der Tat und der Verhaftung der Dienstmädchenmörder in einem Balllokal sowie den Vollzug der Hinrichtung, alles auf das genaueste schön lang beschrieben, nachzulesen mit anderen wahrhaftigen, erschütternden Begebenheiten. Drei Hefte nur ein Groschen.“ Die gesamte Moritat – vielleicht ist ihr Name abgeleitet von „Mordtat“ oder von dem rotwelschen „more“, das Furcht und Lärm bedeutet – die Moritat wurde in vierfacher Weise geliefert: in Lied, Vortrag, in bildlichen Darstellungen und in gedruckter Form, die wiederum die Geschichte in Prosa und in Lyrik darbot. Und immer wurde dasselbe Geschehen behandelt. Es musste so zu einer ungemein eindringlichen Wirkung gelangen. Außerdem konnten die Verse später daheim im stillen Kämmerlein nach sorgfältiger Lektüre der Mordgeschichte zu bekannten Lied- und Choralmelodien immer wieder gesungen werden. Die Moritaten als Lehrstücke mit Moral boten eine Intensivierung des literarischen Erlebnisses, wie sie in keiner ähnlichen Art wiederzufinden ist. Der Verkauf der Heftchen war die einzige Einnahme der Bänkelsänger. Sie waren keine Bettler. Das Erklären und Absingen, das Demonstrieren der Bilder war die Darbietung, die mit dem Kauf der Beschreibungen gelohnt wurde. Fremde Bettler setzten sich zwar gern in die Nähe der Bilderstände und taten so, als ob sie dazu gehörten. Durch di besungenen Schicksalsschläge und gefühlvollen Weisen nicht mehr „hart verpackt“, sondern mild und freigebig gestimmt, warfen dann die guten Leuten leichter ihre „Mohikaner“ (=Pfennige) in die Hüte der Invaliden. Die Geschichten und Ereignisse, die den Moritaten zugrunde liegen, entnahmen die Bänkelsänge vorwiegend Zeitungsnachrichten und Relationen, die bei Hinrichtungen herausgegeben wurden. Sie enthielten Lebenswandel und Taten des Verbrechers meist mit seinen reuevollen letzten Worten und einer aufdringlichen Moral. Weiter dienten aktenmäßige Darstellungen merkwürdiger Verbrechen zur Vorlage, wie sie Anselm von Feuerbach zusammenstelle, ebenso wie die interessantesten Kriminalgeschichten, die J.E. Hitzig und Dr. W. Häring – das ist Willibald Alexis – in zahlreichen Lieferungen als „Der neue Pitaval“ herausgaben. Alle Schilderungen von Verbrechen und Unglücksfällen mussten „wahrhaftig und wirklich geschehen“, und vor allen Dingen mussten sie „aktuell“ sein. Die gedruckten Beschreibungen unterlagen polizeilicher Zensur, die oft streng gehandhabt wurde. Der Bänkelsänger Heydenreich reichte 1827 eine Bittschrift an Seinen Hochwohlgeboren Herrn Hofrat Hirth zu Leipzig ein, als er mit Beschreibung und Bild wieder einmal abgewiesen worden war: „Fußfällig bitte ich und um Gottes Willen beiliegendes Lied, welches zu meinem Gemälde gehört, auf dieser Messe verkaufen zu dürfen. Ich bin vom Militär entlassen, halb blind und habe eine vierundachtzigjährige Mutter zu ernähren. Durch Bild und Schrift will ich auf das gemeine Volk wirken. Wenn das Bild auch schlecht ist, so ist doch die Schrift, welche ich ausstelle, die Hauptsache und enthalt nur wahre Tatsachen. Die sind aus dem Österreichischen Beobachter entnommen, der bekanntlich niemals Unwahrheiten zu Tage fördert.“ Zeitungsdruckereien und Winkelverleger versorgten die Bänkelsänger mit diesen Beschreibungen. 500 Stück = ½ Ries: Mark 4,50, 1000 Stück = 1 Ries: Mark 8,10. Die beiden Hauptlieferanten der „fliegenden Blätter“ in Oktavformat und im Umfang von acht Seiten waren die Verlage Trowitzsch und Sohn in Berlin und Hermann Reiche in Schwiebus. Das Verzeichnis der Beschreibungen von Weltereignissen, Liebes-, Abenteurer- und romantischen Geschichten des Reiches-Verlages enthielt 1171 Titel. Aber nur wenige dieser Beschreibungen sind erhalten. Einige wurden aufgestöbert in Dachwinkeln von Bauernhäusern, das billige Druckpapier von Mäusen angenagt, zwischen Gesangbuchseiten gefunden oder noch zufällig in alten Kleinstadt-Papeterien entdeckt. Der Stil dieser Geschichten, die nur sehr selten die Bänkelsänger selbst schrieben, stolziert redselig und altfränkisch in einem gezirkelten Hochdeutsch daher und markiert den Ton des vornehmen Gebildeten. Mit hundertjähriger Kulturverspätung weht uns aus diesen literarischen Produktionen die Luft des 18. Jahrhunderts an. Gedrechselte Wendungen aus literarischen Salons flattern ausgefranst gleich abgelegter Herrschaftsgarderobe aus del Plüschmöbelatmosphäre auf Jahrmarkt und Rummelplatz, um dort endgültig aufgetragen zu werden. Auffallend ist, dass jedes Substantiv die Gefühlsstütze des Adjektivs oder eines Attributs erhält. „Die herzerhebende, blendende Schönheit des jungen, holden Weibes“, Das blutarme, bürgerliche Mädchen“, „Die drohende, gewitterdunkle Zukunft“, „Heimliche und streng verbotene Liebschaften“, „Traurigstes und tiefstes Mitgefühl für die frevelhaft und grauenvolle vergifteten Opfer“. Die Moral der Geschichten ist wie in Sprichwörter formelhaft immer die gleiche. Jede Untat wird unbedingt bestraft. Glück folgt Unglück. Jede gute Tat findet immer ihren Lohn. Leidenschaft endet nie gut. Reichtum wird meist nach Armut durch Erbschaft erworben. Jede böse Stiefmutter und jeden hartherzigen Vater trifft das verdiente Schicksal. Viel Leid muss von edlen Gemütern durchstanden werden. Aber Leiden sollen läutern, sonst hatte man ja gar nichts von ihnen, meint Jean Paul. Mitleidspoesie und Tränenseligkeit durchziehen die Schauerballade. Ihre naive Moral ist die gleiche wie im Märchen. Auch deren Grundfiguren sind dieselben. Sie tauschen Leben vor, obgleich nur schematisch nach bewährten Mustern verfahren wird. Es ist Trivialliteratur, die sich an ein Publikum ohne Kunstverstand wendet, das Tröstung in diesen Produkten fand, weil es ein angenehmes Gruseln dabei verspürte, sich Schauer den Rücken entlanglaufen ließ, während es sich sicher und frei von Gewissensbissen wusste, da man nicht so ist wie diese Übeltäter auf den Bildern und darum in Frieden leben konnte. Die Moritatenhefte ähneln der „Neuen Zeitung“ des 16. Jahrhunderts, jenen fliegenden Blättern, die im Druck die neuesten Ereignisse aus aller Welt mitteilten und auch als Einblattdruck auf Märkten und Messen ausgerufen und verkauft wurden. Grimmelshausen lasst sein Simplizissimus eine „Zeitungssinger“ werden, wie sie im 17. Jahrhundert als Vorganger der BänkelsängerZu erkennen sind. „Der Drucker gab mir nun alsobald seine Elaborate über ein Seegefecht zwischen venezianischen und barbarischen Schiffen and die Hand. Ich sollte nicht weit von seinem Haus, das ja dem öffentlichen Markte nahe gelegen war, meine Kalender auf ein Tischlein, das er mir dazu leihen wollte, auslegen und hinter dasselbe auf einer Bank stehen frisch, getrost und unverzagt meine wohl inventierte Zeitung auf das Beweglichste absingen. Ich fing meinen Gesang an, und zwar mit so glücklichem Prozess, dass in kurzem alle meine Zeitungen verkauft und mir nur gar wenig übrig waren. „ Auch die Bilder schuf der Moritatensänger nicht selbst, sondern gab sie bei bewahrten Meistern in Auftrag. Er sandte ihm die Geschichte, die er als allerletzte Neuheit vorzutragen beabsichtigte, und legte ein genaues Modell der Tafel bei, auf dem beschrieben war, was in den einzelnen Abteilungen darzustellen sei. 1892 schickte der Bänkelsänger Paul Damm dem Schildermaler Adam Hölbing nach Neustadt in Holstein folgenden Auftrag zu einer neuen Moritatentafel.: Titel: „Eine grausame Mutter“ oder „Zweimal geliebt.“ In der ersten Abteilung soll man sehen, wie die Gräfin sich aus Reichtum und Übermut im Schlitten auf ausgeschüttetem Salz fahren lasst. Neger sind vorgespannt, müssen im tollen Trab dahineilen, einer stürzt. Wärter schlägt mit der Peitsche auf den Neger. Die Dekoration ist vor dem Schloss. Heiße Sonne. Palmen. Kakteen. Daneben in der zweiten Abteilung: Im Walde. Der Herr Graf von einem Schuss zusammensinkend. Die Gräfin gibt dem Jäger in Entfernung ein deutliches Zeichen. Der Jäger schießt daraufhin auf den Grafen. Der Schuss blitzt sichtbar auf. Der kleine Hund winselt um seinen Herrn. Dritte Abteilung. Dekoration: Tiefer Abgrund. Sie schleudert die ihr lästigen Kinder hinunter. Ein Mädchen liegt bereits unten tot. Der Knabe kniet flehend zu Füssen der Mutter. Die packt ihn bereits am Arm. Das größte, älteste Mädchen entflieht. Der Jäger eilt ihm nach. Vierte Abteilung. Mittelbild. Dekoration: Derselbe Wald, aber bei Nacht. Der erschossene Schlossherr wird von der Polizei in Uniform und von Arbeitern ausgegraben. Laternen geben Licht. Der kleine Hund, der den Platz verriet, umwinselt seinen toten Herrn. Schlussbild. Dekoration wie in der ersten Abteilung: Vor dem Schloss, wo die Gräfin mit ihrem Geliebten und Gepäck im Begriff ist fortzufahren. Beim Einsteigen werden sie von Gendarmen und Distriktrichtern verhaftet. Die ältere Tochter zeigt mit ausgerecktem Arm auf die schuldige Mutter. Im Hintergrund der Karren mit den toten Kindern. Noch weiter im Hintergrund wütende drohende Menschenmenge. Neger und Farmer mit Knüppel und Steinen.“ Die Schildermaler wurden nach Quadratmetern bezahlt. Die Rosemanns, eine bekannte Bänkelsängerfamilie – die Mitglieder der Bänklersängerzunft waren meist alle miteinander verwandt oder verschwängert – besaßen einen Fundus von 50 Tafeln, die aber zum Teil immer wieder mit neuen Geschehnissen übermalt wurden; denn wenn die gleichen Bilder vom vorigen Jahr in derselben Stadt gezeigt wurden, erkannte sie das Publikum wieder, und die Beschreibungen wurden nicht gekauft. Trafen durch Zufall zwei Bänkelsänger auf dem Markt zusammen, und der Platz vertrug nicht zwei Schildererstände, dann betrieb man das Geschäft friedlich zusammen, stellte nur einen Satz Schilder auf, sang und erklärte gemeinsam und teilte den Erlös. Man nannte das „Krambuse“ machen. Neben dem bekanntesten Maler Hölbing gab es noch andere Tafelmaler, „Schreckenmaler“ genannt, die für Panoramen, Guckkasten und Moritatensänger arbeiteten. Der Maler Kottermann malte für den bayrischen Bänkelsänger Zettel. Seine Schilder hatten eine eigene, besondere Aufteilung. In der Mitte, in einem senkrechten Feld, stand wie im Panoptikum die Figur, um die sich die Geschichte drehte. Rechts und links von ihr waren dann je drei oder auch vier Bilder, die die Abenteuer und Erlebnisse der Person, die so dargestellt war, anschaulich machten. Es gab in dieser Form Schilder mit der heiligen Genoveva, auch von Robinson Crusoe. Die hatten aber keinen rechten Erfolg, weil es erdichtete Geschichten waren. Anders sah es bei den Schilderungen vom Bayrischem Hiasel oder dem Schinderhannes und dem Räuber Karl Marsch aus, der sich im Waldesdunkel Höhlen baute, nachts die Dörfer überfiel und dort fürchterliche, blutige Gemetzel veranstaltete. Der unschuldige verbannte Dreyfus auf den Teufelsinsel war dargestellt und wurde besungen. Der Massemorder Haarmann, der Hauptmann von Köpenick, auch Kaspar Hauser, das Kind Europas: „Wer hat nicht von Kaspar Hauser vernommen, Der in Nürnberg so spät ans Licht gekommen? Er kam als Jüngling zur Welt, nicht als Kind. Er war eins der Wunder, die selten sind.“
Viele Moritatenbilder und Lieder gab es vom Märchenkönig Ludwig auf Schloss Neuschwandstein:
„Der Doktor Gudden und der Bismarck, Den man auch den falschen Kanzler nennt, Sie hab’n ihn in den See gestoßen, Indem sie ihn von hinten angerennt.“
Maler Kottermann bebilderte auch die Tragödie von Mayerling mit den überlebensgroßen Figuren der bildschönen Mary Vetsera und dem Kronprinzen Rudolf in ungarischer Uniform.
Im Jahre 1889 ist’s geschehen, Im Jagdschloss Mayerling, im Walde tief versteckt, Was Ihr auf diesen Bildern jetzt könnt sehen. Ein Unglück, das die ganze Welt erschreckt.“
Der bekannteste Bänkelsänger war der weitgereiste Emil Koch aus Stargard, der Caruso unter den Bänkelsängern. Er trat um die Jahrhundertwende im Zylinderhut und im feierlichen Gehrock vor die lange Reihe seiner aufgehängten Bilder. Rechts und links von ihm sangen zweistimmig seine jungen Nichten in weißen Kleidern. Hinterher verkauften sie die Beschreibungen. Auf einer Walzenorgel waren folgende gefühlvolle Lieder: Still ruht der See, die Vögelein schlafen“, O Sibirien, du eiskalte Zone, wo kein Zephir di Fluren beglückt“, „Die Sonne sank im Westen, mit ihr schwieg still die Schlacht“, „Warum weinst du, schöne Gärtnersfrau?“ Auch zu dem volkstümlichen Lied: „Es wollt ein Mann nach seiner Heimat reisen“, dessen Melodie später das Horst-Wessel-Lied übernahm, sang er seine Balladen. Nach Schluss und vor der nächsten Moritat erklang getragen aus Lortzings Oper „Zar und Zimmermann“ das lyrische Zarenlied „Einst spielt’ ich mit Zepter, mit Krone und Stern“. Abends brannten auf dem „Oragnistrum“ Karbidlampen in Kerzenform, die Moritator und Sängerin stimmungsvoll beleuchteten. Seine Frau saß schwarzgekleidet und verschleiert auf dem Podium, von dem sie nie herunterstieg. Auf der Schleife ihres Lackschuhs hatte sie eine goldene Damenuhr prangen. Von dem alten Bänkelsänger „Modschulze mit dem Treppengeländer“ – das Treppengeländer war die Harfe, auf der Morschulz seine Lieder begleitete – erwarb Emil Koch sehr alte Schilder, furchtbaren Mord und Totschlag darstellend, vor denen ihm, so gestand Koch, selber graulte. Zum Beispiel zeigte eine dieser sehr alten Tafeln eine Hochzeit auf einem reichen Bauernhof. Am Tag vor der Trauung beißt der tollwütige Hofhund den Bräutigam. Nach dem Kirchgang bricht bei dem Hochzeiter die Tollwut aus. Er beißt seiner Braut die Gurgel durch. Als man ihn fangen will, springt er im Hochzeitanzug auf den Ofen und bleckt die Zähne. Wo die schrecklichen Bilder mit den vielen anderen Tafeln geblieben sind, weiß man nicht. Viele wurden behördlicherseits konfisziert, andere zerschlissen in Wetter und Wind und wurden mit den Jahren unter den vielen Stockschlagen auf Opfer und Missetäter, auf Gerechte und Ungerechte brüchig und mürbe. Viele von ihnen wurden mit erfreundlicheren Bilder übermalt. Etwa mit einer Fortuna mit Füllhorn oder mit dem St.-Hubertus-Hirsch als Seitenwände für Glückshafen und Schiessbuden. Koch beschriftete sie als Ankündigungstafeln für sein Reise-Kinematographen-Theater, mit großer Orgel und schöner Außenfront vor dem Zelt, das er rechtzeitig erwarb, und in dem er als Stummfilmerklärer seinen früheren Beruf fortsetzen konnte. Nun nicht mehr vor starren, toten Bildern, sondern vor sich bewegenden, lebensechten Schatten auf unbemalter, weißer Leinewand. Der Bänkelsänger Ernst Becker ist der letzte aus del Gilde der Eyligonisten. Er sammelte alte Schilder, kaufte wertvolle alte Orgeln auf und sang auf Messen und Markten seine Lieder. Zuletzt wurde er von Heimatvereinen und Volkshochschulen eingeladen, um mit seinen Bildertafeln und Erklärungen ein Stück alter, verschollenere Volkskunst wieder lebendig werden lassen. Die Moritat, die echteste Volksliteratur, auf die sogenannte Kunstpoesie des 18. Jahrhunderts. Namhafte Dichter erkannten die Wirkung auf das Publikum, übernahmen die Balladenform und ließen sich von den unbekannten Dichtern der Moritaten anregen. Sie gingen bei den Bänkelsängern in die Schule. Seit Gleim blühte die Balladen- und Romanzendichtung in Deutschland auf. Er wollte den Bänkelgesang veredeln. Selbst Hölty entzog sich nicht dieser literarischen Mode. Der 29jahrige Gottfried August Bürger dichtete 1773 seine „Leonore“ im Stil einer Moritat, die ungeheures Aussehen erregte und viele Jahre lang auf Jahrmärkten gesungen wurde. Schiller, dessen „Kindermörderin“, „Ritter Toggenburg“ und “Der Gang zum Eisenhammer“ selbst reine Schauerballaden sind, die unmittelbar unter dem Eindruck des Bänkelgesangs entstanden, verriss Bürger, dieses „haltlose Genie“, und dessen Balladendichtungen 1791 in der Allgemeinen Literaturzeitung mit vernichtender Kritik. Arnim und Brentano erlebten Bänkelsänger auf einer Rheinfahrt in Mainz, die einen so großen Eindruck auf sie machten, dass sie den abenteuerlichen Plan fassten, auf dem Schlosse Laufen am Rheinfall eine Bänkelsängerschule zu gründen. Eine Druckerei für die fliegenden Blätter sollte ebenfalls dort eingerichtet werden. Grosse Dichter, man dachte an Goethe, sollten die Lieder schreiben. Die Melodien mussten von Reichard und Mozart sein. Man wollte dort auch politische Bänkelsänger ausbilden, sie durch die Lande schicken und erhoffte sich die stärkste Wirkung auf das Volk.
Wenn heute von Moritaten und Bänkelliedern gesprochen wird, so versteht man gewöhnlich darunter Parodien und komische, scherzhafte Dichtungen in Knüppelversen, die den Stil der Bänkelsänger nachahmen wollen. „Sabinchen war ein Frauenzimmer“ ist eine der bekanntesten und beliebtesten Moritatenparodien. Sie entstand in einer lustigen Leipziger Gesellschaft, deren Mitglieder aus Buchhändlern, Schriftstellern und Studenten bestand. Man traf sich im Hause des freisinnigen Georg Wiegand und dichtete drauflos. Ihren literarischen Verein nennten sie die „Maikäfer“. Weiter wurden die Balladen von dem Selbstmörder „Gottlieb Seidelbast“ von „Eduard und Kunigunde“ und von der Überschwemmung „In der großen Seestadt Leipzig“ gesungen, die sich in Kommersbuchern findet und von dem Landrat und Geheimen Regierungsrat Hansen in Tondern als Student im Jahr 1874 gedichtet wurde. Er schämte sich des Werkes hernach und bestritt es eifrigst. Er war es aber. Der Bänkelsang hat so im gewissen Sinn die komische Literatur bereichert. Bei Carl Arnold Kortums „Jobsiade“ setzt die Übernahme des Bänkelsängerstils im Komischen ein. Eine gerade Linie führt vom Kunstromanzensang über das komische Epos bis zu den Bildergeschichten Wilhelm Buschs. Später ließen Brettel und Kabarett die satirischen Bänkelsängermoritaten in anderer Kostümierung wieder lebendig werden. Frank Wedekind trat im Münchner Künstlerkabarett „Die Elf Scharfrichter“ auf und sang seine Balladen zur Laute. „Brigitte B.“, den „Tantenmörder“ und „Das Lied vom armen Kind.“ Wolzogen, Bierbaum, Erich Mühsam und Walther Mehring schrieben für das Kabarett und sangen dort ihre Bänkelsängercouplets wie Klabund und Ringelnatz, wie Erich Kästner und Bert Brecht, der seine Dreigroschenoper durch einen Moritatensänger eröffnen lasst. Brecht gesteht, dass in seiner Jugendzeit die Welt der Schaubuden beeinflussende und nachhaltige Wirkung auf ihn hatten. „Ich besuchte häufig den alljährlichen Herbstplärrer, einen Schaubudenjahrmarkt auf dem kleinen Exerzierplatz in Augsburg mit der Musik vieler Karusselle und Panoramen, die bunte Bilder zeigten wie „Die Erschießung des Anarchisten Ferrer zu Madrid“ oder „Die bayrischen Löwen erstürmen di Düppler Schanze“ oder „Flucht Karls der Kühnen nach der Schlacht bei Murten“. Ich erinnere mich and das Pferd Karls des Kühnen. Es hatte enorme, erschrockenen Augen, als fühle es die Schrecken der historischen Situation. Wie die alten Bänkelsänger, so nahm auch Brecht seine Fälle aus Gerichtsberichten. Ein Prozess regte ihn zu der Ballade „Von der Kindesmörderin Marie Farrar“ an. Diese Sechzehnjährige erregte das Gemüt des Gerichtshofes durch ihre Unschuld und menschliche Unempfindlichkeit. „Apfelbock“ oder „Die Lilie auf dem Felde“ ist die lyrische Ballade vom Knaben Jakob, geboren zu München 1906, der im dunklen Drang und „mildem Licht“ seine Eltern erschlägt und sie in den Wäscheschrank sperrt. Die Melodie ist in Brechts Taschenpostille mitgegeben. Sie hat den gleichen melancholischen Klang, wie er auf den Leiern eingestanzt ist, die vor hundert Jahren auf den Schilderständen gedreht wurden. Der Bänkelsänger auf dem Jahrmarkt konnte damals nicht ahnen, dass einmal Moritat und Bänkelgesang im Kabarett landen und zur erheiternden Unterhaltungen dienen wurden. Er wollte nie belustigen. Er wollte rühren und erschüttern, erschrecken und bessern zugleich. Sein Ernst, mit dem er den Beruf ausübte, um das tägliche Brot zu verdienen, war echt. Das Missverhältnis zwischen Ausdruckswillen und Ausdrucksfähigkeit in Wort und Bild ist es, das uns jenen Genuss bereitet, den all Arten primitiver Kunst gewahren. Aber die schrecklichen Bilder auf den Moritatentafeln voll Farbgeschrei und Menschennot, ihre rührselige Beschreibung und die sentimentalen Vertonungen der simplen Reimen führen uns noch heute mitunter nach der ungewollt komischen und auch nach der ergreifenden Seite hin über jene Grenzen des Empfindens hinaus, die uns zünftige Kunst und zivilisierter Kunstgeschmack gezogen haben. |
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